Alte Erfolge haben keinerlei Bedeutung für die Zukunft

Markus Elsen, Publicis Pixelpark (Teil II)

Alte Erfolge haben keinerlei Bedeutung für die Zukunft

Markus Elsen

In Teil I analysiert Markus Elsen, Director Content Creation bei Publicis Pixelpark, die Trends am Scheideweg des Marketing und rüttelt Zögerliche wach. Jetzt in Teil II folgert er die Konsequenzen für Agenturen – und Unternehmen.

(Teil I verpasst? hier nachlesen) 

Bleiben wir zunächst bei den Influencern, den neuen Medien-Topstars: Nachdem sich Social Media im Medienmix der Unternehmen fest etabliert hat, boomt mittlerweile das Influencer Marketing. Viele Agenturen haben verstanden, dass es viel effizienter ist, wenn Multiplikatoren aus der Peer-Group meiner Zielpersona das neue Top-Produkt oder Unternehmen empfiehlt, statt eine teure Kampagne zu fahren. Mit Lösungen wie  MSL Fluency oder Linkilike können Influencer-Kampagnen heute zudem einfach und effizient ausgesteuert werden – und sie passen sich einfach ins Angebotsportfolio jeder Agentur ein. Schwieriger wird es bei der Marketing Automation, die ein neues Content-Verständnis und viel Spezialwissen erfordert.

Altes Wissen zählt kaum noch

Für die meisten Agenturen mit Content-DNA ist die Zukunft mehr als ungewiss. Top-Erfahrungen im Business mit Kundenmagazinen oder Webzines sind weitgehend irrelevant. Überhaupt Content. Wen wundert es noch, dass jeder etwas anderes unter Content oder Content Marketing versteht? 

Irgendwie ist heute alles Content. Lassen wir es doch lieber, eine Definition zu finden, denen alle Marketers und PR-Profis zustimmen können! Wichtig ist nur noch, ob Content ein nachhaltiges Customer Engagement erzielt – egal ob Editorial Content oder Produkt-Content. Und dafür braucht es heute neben strategischer Expertise vor allem Big-Data-, Media- und Analytics-Erfahrung.

Und während sich heute Werbetexter und Redakteure noch darüber streiten, wer diesen „catchy  engaging content“ besser liefern kann, steht schon fest, dass Artificial Intelligence am Ende das Rennen machen wird. Für Redakteure und Texter wird in vielen Fällen nur die Aufgabe der Qualitätssicherung übrig bleiben. Nur sehr wenige Journalisten werden künftig noch Features und Reportagen – überhaupt die klassische Long Copy – produzieren, wenn die meisten Zielgruppen Videos, Infografiken, Memes und Content-Snippets aller Art bevorzugen – auf Instagram, WhatsApp, LinkedIn oder Tik Tok. Darüber hinaus wird es den neuen Typus des Digital Editors geben, der überall dort, wo Artificial Intelligence (noch) überfordert ist, mit einer top Medien- und Kanal-Expertise verschiedenste Content-Module produziert. Viele Agenturen werden ganz aus der Content-Erstellung aussteigen, ihn stattdessen billig von freien Journalisten und Redaktionsbüros zukaufen und sich lieber auf die Aussteuerung des Content-Campaignings konzentrieren.

Agile Strukturen statt eitler Chefs

Agentur-Manager brauchen viel Mut, um ihr Unternehmen erfolgreich für die neue Zeit fit zu machen. Eine Zukunft, in der Transformation nie endet und die Halbwertszeit von Wettbewerbsvorteilen drastisch sinkt. Alles bleibt in Bewegung. Nur wer begreift, dass alte Erfolge keinerlei Bedeutung für die Zukunft haben, wer ausgeprägte Social Skills besitzt und nicht unter Kontrollzwang leidet, passt noch in die neue Agenturwelt. Auch für die persönliche Eitelkeit und Dominanz bleibt kein Raum. Wir bauen die neue Agenturwelt vor allem mit der Generation der Millennials. Die hat eh keine Lust auf verkrustete Top-down-Strukturen. Die neue Agentur hat:

/ ein agiles Leitbild
/ eine kundenorientierte, agile Unternehmensstruktur
/ iterative Prozesse
/ ein mitarbeiterzentriertes Führungsverständnis
/ agile Personal- und Führungsinstrumente
 
Die agile Agentur ist jederzeit imstande, ihre Organisation und ihr Geschäftsmodell binnen kürzester Zeit an neue Marktanforderungen anzugleichen. Teams finden sich ohne zentrale Steuerung je nach Anforderung flexibel zusammen, sind für die Realisierung eigenverantwortlich und jederzeit bereit, proaktiv und initiativ sich bietende Marktchancen zu ergreifen. 

Mündige Mitarbeiter lieben ihre Jobs

Die Agentur der Zukunft verinnerlicht Agilität als notwendiges Führungs- und Organisationsprinzip (Methoden und Mindset) auf allen Ebenen. Agile Methoden wie das Scrum Framework, Swarming, Holokratie, Design Thinking, Lean Startup oder Innovationslabor werden jederzeit angewandt oder je nach Projekt flexibel adaptiert. Das Daily Business ist geprägt durch tägliche Stand-up-Meetings, Task Boards und Team-Retrospektiven. Agile Agenturen haben mündige Mitarbeiter, die ihre Jobs lieben, sie sind innovationsfreudig – so wird jeder Mitarbeiter zum Erfolgstreiber für die digitale Transformation. 

 

Zwei Beispiele aus der Praxis agiler Unternehmen sind Spotify und Morning Star

Spotify: Management überwacht Alignment

Der Streamingdienst Spotify wurde 2006 gegründet, verzeichnet heute Umsätze von mehr als vier Milliarden Euro und hat 3.000 Mitarbeiter. Diese Erfolgsstory basiert nicht zuletzt auf der agilen Organisationsform. Und die sieht so aus: Kleine, cross-funktionale, lose Teams von bis zu acht Personen, so genannte Squads, tragen die Gesamtverantwortung für einen bestimmten Bereich des Streamingdienstes oder ein spezielles Feature. Sie reicht von der Idee, über die Konzeption und Entwicklung bis zum wirtschaftlichen Erfolg. Dabei entscheiden die Squads völlig autark, wie sie ihre Zusammenarbeit gestalten. Jeder Squad hat einen gewählten Squad Lead, der die Belange des Teams vertritt. 

Verschiedene Squads bilden einen Tribe, der wiederum einen Tribe Lead hat. Um einen fachlichen Austausch zu ermöglich, gibt es Chapter, die wie Usergroups funktionieren. Diese beschäftigen sich jeweils mit einem bestimmten Thema, zum Beispiel Datenbanken, und legen Standards sowie Technologien im Unternehmen fest. Außerdem gibt es Gilden für bestimmte Spezialfälle.

Bei Spotify tragen die Führungskräfte die Verantwortung für die Einhaltung der Mission von Spotify und den Squad-Spirit. Schließlich sind das inhaltliche Alignment, die Motivation und der Zusammenhalt im Squad absolut entscheidend für die Performance. Und da die Squads recht agil gesteuert werden, reduziert sich der Management-Aufwand erheblich. 

Das Beispiel Spotify zeigt, dass eine Firma mit – einmal angenommen – 100 Mitarbeitern aus zwei bis drei Managern und 10-12 Squads bestehen kann. Diese extrem flache Hierarchie verspricht Effizienz und Geschwindigkeit. Längst orientieren sich auch andere Unternehmen am Spotify-Modell, etwa ING Diba, Telekom und Rewe. 

Morning Star: Mitarbeiter entscheiden autark

Auch die Morning Star Company aus Kalifornien hat einen besonderen und agilen Weg gewählt, um die Schwarmintelligenz ihrer Mitarbeiter zu nutzen. Der Hersteller von Tomatenpaste, beispielsweise als Pizzabelag verwendet, macht mit rund 400 Mitarbeitern 700 Millionen US-Dollar Umsatz pro Jahr. 

Morning Star hat kurzerhand sein Management abgeschafft und alle Hierarchieebenen im Unternehmen eingestampft. Die Mitarbeiter handeln mit ihren Kollegen selbst Verträge aus. Was sie für ihre Arbeit an Maschinen oder Material benötigen, bestellen sie selbst – und nicht eine Einkaufsabteilung. Das Unternehmen setzt sich so quasi aus lauter Mini-Unternehmen zusammen. Jeder Mitarbeiter ist völlig autonom in seinen Handlungen: Er bestimmt, was er genau tun will, wie er mit seinen Kollegen kommunizieren und sich koordinieren will, was er mit den Lieferanten oder Kunden aushandeln will. Die Mitarbeiter haben zudem alle Managementaufgaben übernommen. Es gibt keine Stellenbeschreibungen, keine Anweisungshandbücher und Organisationsrichtlinien, keine von oben verordneten Zielvorgaben. Alle Zuständigkeiten und die komplette Arbeitsteilung werden zwischen den Mitarbeitern direkt ausgehandelt. 

Checkliste für mutige Durchstarter

Wer sich von diesen oder anderen Beispielen inspiriert sieht, agile Strukturen in der Agentur einzuführen, um einen stetigen Wandel zu ermöglichen, kommt zunächst an einer schonungslosen Analyse der individuellen Lage nicht vorbei. Dabei stehen folgende Fragen an: 

Bin ich davon überzeugt, dass meine Agentur nur als agile Organisation eine Zukunft hat? Und bin ich bereit, konsequent agile Strukturen zu schaffen? Denn ein Zurück ist nicht möglich! 

Mit welchen meiner Kunden kann ich langfristig rechnen? Sehen sie mich tatsächlich auch langfristig als Partner für datenbasiertes Content-Campaigning?

Verstehe ich mich künftig als Full-Service-Partner für meine Kunden – oder als „verlängerte Werkbank mit Fokus auf Einzelleistungen“ für größere Wettbewerber im Markt? Das kann beispielweise die Produktion von Content, die Markenentwicklung, die Content-Strategie oder Konzeption neuer Geschäftsmodelle, SEO oder die Webentwicklung sein.

Wer sind meine Partner für alle Leistungen, die ich selbst nicht leisten kann – etwa das Performance Marketing, Media, Data Analytics und Expertise im Bereich Lead-Nurturing- und Marketing-Automatisierungs-Solutions oder im Bereich Shop-Systeme?

Traue ich mir zu, mit der neuen Positionierung neue Kunden zu akquirieren? Wenn ja, in welcher Branche? Welche Mindestbudgets brauche ich?

Darf ich davon ausgehen, mit dem neuen Profil zu Pitches eingeladen zu werden? Habe ich eine Chance, sie zu gewinnen – obwohl mir erst einmal die nötigen Referenzprojekte fehlen? Wie kann ich dieses Manko kompensieren?
   
Welche meiner Mitarbeiter finden in der neuen Struktur der Agentur noch eine Rolle? Kleiner Tipp: Wer der alten Zeit nachtrauert, Social Media, YouTube nichts abgewinnen kann und über die Datenkraken wettert, wird kaum performen.

Kann ich mich von den Mitarbeitern, die künftig keine Rolle finden, trennen, ohne dass hohe Abfindungen die wirtschaftliche Basis der Agentur gefährden?

Alles schwierige Fragen. Sie positiv zu beantworten, kostet abermals Mut. Viel steht auf dem Spiel, vor allem wenn man keine prall gefüllte Kriegskasse hat, um fehlende Kompetenzen durch die Übernahme von Spezialagenturen einzukaufen. Schließlich entspricht nicht jede Agentur dem Kaliber einer C3 oder Territory.  

Und Mut ist auch auf der nächsten Etappe nötig. Der Einstieg ins datengetriebene Content-Campaigning birgt das Risiko von Rückschlägen und Misserfolgen. So oder stehen weitere wichtige Fragen im Raum: 

Bin ich bereit, Misserfolge unter Laborbedingungen zu riskieren, um daraus zu lernen und letztendlich umso erfolgreicher zu agieren?

Vertraue ich darauf, dass Dinge ganz anders funktionieren können als bisher gedacht?

Wenn das Business anspringt: Bin ich bereit, mich nach und nach von gut laufendem Alt-Business zu verabschieden, um mit einer klaren Positionierung zu wachsen?

Ich wünsche unserer Branche diesen Mut, mit den richtigen Weichenstellungen, in neuen Partnerschaften und Allianzen unsere Kunden durch die Stürme der Transformation zu führen. Die neue Kommunikationswelt ist spannend, hoch effizient und seriös messbar. Wir müssen nicht mehr um das Vertrauen unserer Kunden buhlen, sondern können heute beweisen, dass wir es tatsächlich verdienen. Eine neue Ära bricht an. Ich bin gern dabei!
 

Markus Elsen

Markus Elsen

Markus Elsen ist Director Content Creation bei Publicis Pixelpark in München und Erlangen. Mit seinem Team betreut der Content-Profi Etats von Kunden wie Siemens, BSH und PATRIZIA.

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