Wir dürfen nicht in Panik verfallen

Alexander Schell kommentiert

Wir dürfen nicht in Panik verfallen

Auch zu Markus Elsens zweitem Teil, mit dem er Unternehmen wie Agenturen wachrütteln will, schlüpft Alexander Schell in die Rolle des Advocatus Diaboli.

(Markus Elsen, Teil II "Alte Erfolge haben keinerlei Bedeutung für die Zukunft" verpasst? hier nachlesen) 

Ist das Thema Influencer Marketing wirklich noch der Dernier Cri? Nein, der Boom ist längst vorbei, das Thema ist zum Verdrängungswettbewerb geworden. Der Werbewerb von Influencern ist extrem schwer zu ermitteln. Der Zufall und der Algorithmus bestimmen inzwischen den Erfolg des Influencer Marketings – und nicht die Zahl der Likes und Kommentare. Die Follower-Zahlen stehen immer öfter in einem krassen Missverhältnis zu den Interaktionsraten. Und die Unternehmen müssen mittlerweile immer mehr Geld in die Hand nehmen, um sich auf diesem Feld weiter behaupten zu können. Influencer Marketing, so die neuesten Prognosen, wird ein Nischenmarkt werden, in dem „Nano Influencer“ mit einem extrem engen Verhältnis zu Followern ganz spezielle Inhalte transportieren.

Dazu kommt, dass Influencer Marketing ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen hat, seitdem man weiß, dass Freunde gekauft und Bots eingesetzt werden können  – und im Schnitt nur jeder fünfte Kommentar von einem Menschen verfasst wird. 

Agenturen, die ihr Heil in totaler Agilität suchen, leben gefährlich 

Ich glaube, dass der Hype um agile Strukturen, Prozessen und Methoden gefährlich ist, weil er suggeriert, ein neues Instrument garantiere den Agenturen die Zukunftsfähigkeit und den Lohnabhängigen und Freiberuflern mehr Lebensqualität.

Wir dürfen nicht vergessen, dass der Begriff der Agilität nicht aus ethischen Gründen entstand, sondern aus einer rein kapitalistischen Überzeugung: Der US-Soziologe Talcott Parsons prägte den Begriff bereits in den 1950er Jahren als er sich Gedanken machte, wie Wirtschaftssysteme in den USA angepasst werden können, damit sie in einer sich ständig wandelnden Umwelt erfolgreich weiter bestehen.

Und machen wir uns nichts vor: Agilität meint in letzter Konsequenz eine „Bestenauslese“, denn, um in einer dynamischen Welt wettbewerbsfähig zu bleiben, muss man mit sich immer wieder neu organisierenden Teams arbeiten – bestehend aus den Besten und Geeignetsten, also Anpassungsfähigsten, die den Kundenwünschen von morgen gerecht werden können.

Vor allem die älteren und loyalerer Menschen in den Agenturen, die Zeit für persönliche Reife, Neuorientierung, innere Stabilität und Einarbeitung brauchen und sich schwer tun, sich völlig eigenverantwortlich fachlich wie persönlich weiterzuentwickeln, sind dann plötzlich nicht mehr gefragt. Und selbst die hochmotivierten jüngeren agileren und psychisch stabilen Mitarbeiter werden der Agentur nicht länger als 3 Jahre zur Verfügung stehen und sich dann wieder anderswo umschauen. Und das wird Auswirkungen auf das Kundenwissen in der Agentur haben.

Haben also wirklich nur noch agile Agenturen in Zukunft eine Chance? Keine Frage, dass Agenturen wie jedes andere Unternehmen in diesen Zeiten des Umbruchs und einer kontinuierlich fortschreitenden Digitalisierung unseres privaten und beruflichen Alltags auf die massiven Veränderungen der Rahmenbedingungen, der Märkte und der Kunden reagieren und flexibler werden müssen.

Kundenfokussierung bei maximaler Effizienz heißt das Ziel. Ich möchte dieses Soll-Szenario „Management 3.0“ – und nicht „Agilität“ – nennen und darauf hinweisen, dass der Erfolg einer Agentur in Zukunft noch viel mehr davon abhängen wird, ob sie sich auf Individuen und Interaktionen, auf funktionierende Dienstleistung, auf enge Zusammenarbeit mit dem Kunden und auf schnelle Reaktion bei Veränderungen besinnen kann und will. Und selbstverständlich funktioniert das am einfachsten mit flacheren Hierarchien und mit mehr Selbstorganisation. Aber das wissen wir ja schon seit Mitte der 1980er-Jahre als Agilität als Mindset das erste Mal auch in deutschen IT-Unternehmen zur Diskussion stand.

Wir Berater, Change Manager, Vordenker oder Evangelisten in der Kommumikationsszene müssen nur aufpassen, dass wir jetzt nicht wieder den Fehler machen und mit einem Buzzword-Bingo, angefangen von „Alignment“, „Chapter“, „Design Thinking“ und „Iterativer Prozess“ über „Lean Startup“, „Standup Meeting“‘und „Squad“, bis zu „Task Board“, „Team-Retrospektive“ und „Tribe“, die natürlichen Abwehrkräfte von Lesern und Betroffenen aktivieren und vergessen, dass es nicht um neue Managementmethoden und Tools, sondern im Kern um eine neue Haltung und eine andere Denk- und Handlungslogik geht, die den Agenturen dabei helfen soll, schnell und kreativ auf wechselnde Bedürfnisse von Kunden und Märkten zu reagieren. Die Werte des agilen Denken und Handels sollten im Fokus unserer Warnungen stehen und nicht missverständliche und meist unbekannte Fach-Termini.

Und wir müssen auch deutlich darauf hinweisen, dass Agilität sich nicht für jede Agentur, für jeden Menschen und für jeden Organisationsbereich eignet, auch dass Agilität weder die Versäumnisse in der Businessplanung kompensiert noch die strukturellen Probleme der Agenturszene und der Verlage löst noch den Fachkräftemangel behebt.

Und wir sollten bedenken, dass jede Agentur – wie jedes andere Unternehmen auch – eine Markenpersönlichkeit mit einer Biographie, mit einer eigenen Psyche, mit einem typischen Verhalten und einer individuellen Kultur darstellt. Zu radikale Veränderungen können in der Belegschaft zu massiven Verunsicherungen führen, die gesamte Organisation gefährden und einen Schaden anrichten, der monetär kaum zu beziffern ist.

Viele Fragen bleiben unbeantwortet 

Für mich stellen sich nach Elsens Einblick in die schöne neue (digitale) Welt der Marketing-Automatisierung viele Fragen, die mir bisher keiner beantworten konnte:

Macht Artificial Intelligence (AI) und Programmatic Creativity, also speziell auf die Interessen einer Persona zugeschnittene Werbung, wirklich das Rennen, während sich Journalisten, Redakteure und Texter höchstens noch um die Qualtitätssicherung kümmern?
Bleibt der Erfolg dieser Technologien nicht immer auch von der Größe der dahinterstehenden kreativen Idee abhängig?

Lassen sich in Zukunft auch erfolgskritische Kreativitätstechniken in der Kommunikation wie die (Bewegt-) Bildsprache, der Humor, die Emotionalisierung und das Erzählen einer kraftvollen Geschichte automatisiert über Robotics produzieren?

Kann Artificial Intelligence (AI) und Programmatic Creativity in Zukunft wirklich gleichzeitig von der einzelnen Persona nachgefragte „Help-Inhalte“, für jeden Buyer hochrelevante „Hub-Inhalte“ und auch noch aufwändige Premium-Storys – „Hero-Inhalte“ – liefern, verzahnen und vertreiben? Nach dem Help-Hub-Hero-Modell benötigt ja jedes Content-Angebot alle drei Formen, um erfolgreich zu sein!

Ist das Gros der automatisiert über unzählige Mikrokampagnen an die einzelne Zielperson ausgesandte Content auch wirklich relevant und kunden(bedarfs)orientiert oder entsteht inzwischen auch über Content Marketing ein breiter Teppich des Grundrauschens, das der Kunde über kurz oder lang vollkommen ignorieren wird, und eine neue Qualität von Spam, von dem sich der User nach und nach komplett abwendet?
Ist Content Campaigning nicht auch heute schon vielfach Werbe-Penetration bis zur Leidensgrenze?

Besteht nicht schon aktuell die Gefahr, dass Tools der Marketing-Automatisierung wie Retargeting, Social Sales, Content Campaigning, Programmatic Creativity & Co. als digitale Pervertierung von Stalking und Spamming missbraucht werden?


Wir alle müssen nachdenken, uns den Veränderungen stellen und die Diskussion suchen. Aber wir dürfen nicht in Panik verfallen, mit dem Schlimmsten rechnen, uns aufgeben, unsere Werte verraten, alles auf den Kopf stellen und angeblich heilbringenden Methoden blind vertrauen.

siehe auch ► Alexander Schell  "Uns fehlt immer noch die benötigte Datenqualität"

Alexander Schell

Alexander Schell

Alexander Schell, Diplom-Sozialwissenschaftler und Marketing-Fachjournalist, ist Geschäftsführer der Marketing- und Kommunikationsberatung Schell Marketing Consulting und Leiter am Europäischen Institut für angewandtes Kundenmanagement (eifk).

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